Rechenkunde

Dyskalkulie ist ein abstrakter Sammelbegriff für Teilleistungsschwächen, die auch im Bereich des rechnerischen Denkens und Handelns auftreten und dabei erkennbar werden als Beeinträchtigung der Rechenleistung auf dem Hintergrund sonst oft normaler Begabung.

Die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema unterteilt die Dyskalkulie grob in zwei Ursachengruppen:

Primäre oder neurogene Dyskalkulie:
Unter primärer oder neurogener Dyskalkulie versteht man die körperlich bedingten, d.h. auf Hirnleis­tungs­schwächen beruhenden sogenannten neurogenen Rechenstörungen. Diese sind entweder genetisch oder perinatal erworben, Traumafolgen oder Zustände nach cerebralen Erkrankungen. Genaue neuro­psy­chologische Untersuchungen decken meistens diskrete Dysfunktionen in weiteren Gebieten auf (Motorik, Wahrnehmungsverarbeitung der verschiedenen Sinne, Gedächtnis u.a.). Das Rechnen, eine komplexe Hirnleistung, ist nicht wie die Sprache in einem bestimmten Hirnrindengebiet lokalisierbar. Es ist vielmehr das Leistungsergebnis des Zusammenwirkens verschiedenster Funktionen unterschiedlichster Rinden­bereiche beider Hirnhemisphären. Daher können die unterschiedlichsten elementaren Teilleistungs­schwächen und Funktionsbeeinträchtigungen beider Hirnhälften Dyskalkulie bewirken. Beim Rechenprozess selbst arbeiten beide Hemisphären integrativ zusammen. Oft interveniert bei der Dyskalkulie auch eine eingeschränkte Merkfähigkeit für Informationen, die in einem ,,zeitlichen” Ablauf stehen (Zahlenreihen, Abfolge von Zeichen, Tönen, Rhythmen u.ä.) und die man als Serialschwäche bezeichnet.

Sekundäre oder psychogene Dyskalkulie:
Unter sekundärer oder psychogener Dyskalkulie versteht man eine durch seelische Störungen bedingte Rechenschwäche. Sie kann als Folge einer Hirnleistungsschwäche auftreten wie die Entstehung von Rechenängsten nach gehäuftem hirnleistungsbedingtem Rechenversagen. Sie kann aber auch auftreten, ohne daß eine offensichtliche Teilleistungs-schwäche des Gehirns vorliegt. Dazu zählt z.B. die kleinere Gruppe der ausgesprochen neurotischen Rechenstörungen, bei denen die Rechenprobleme als Teilsymptom einer Neurose zuzuordnen sind. Sensitive, überbehütete, unselbständige Kinder z.B. sind in dieser Hinsicht gefährdet.

Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht hängen häufig mit Problemen des zählenden Rechnens eng zusammen.

Zu mir in die Praxis kommen vorwiegend Kinder, die im arithmetischen Anfangsunterricht der Grundschule besonders deshalb aufgefallen sind, weil sie alle Aufgaben durch Abzählen zu lösen versuchen. Sie tun dies vermutlich auch deshalb, weil Zähltechniken für sie unmittelbar einleuchtend sind und ihnen darüber hinaus Sicherheit zu geben scheinen.

Zählendes Rechnen hat Vorzüge

Nun hat zählendes Rechnen ohne Zweifel bei Aufgaben des kleinen Einsundeins und beim kleinen Einmaleins durch Mitzählen der Schritte in Einmaleinsreihen beim Multiplizieren und Dividieren Vorzüge. Als problematisch gilt  jedoch das “Festhaken” beim zählenden Rechnen. Die Schwierigkeiten des zählenden Rechnens faßt Gerster (1998) folgendermaßen zusammen:

  • “Die Techniken des Vollständig-Auszählens sind umständlich, die Weiterzähltechniken erfordern doppeltes Zählen (das verbal gestützt werden kann, z.B. bei 4 + 3 durch die Sprechweise 4 plus 1 sind 5, plus 2 sind 6, plus 3 sind 7; bei 7 – 3 entsprechend 7 minus 1 sind 6, minus 2 sind 5, minus drei sind 4, oder eben durch die Benutzung der Finger).
  • Beim zählenden Rechnen ist das Ergebnis oft um 1 zu groß oder zu klein, weil die Rolle des Anfangs- oder Endgliedes der Zählsequenz unklar ist.
  • Zählkinder verwenden nicht die Zahlensätze, die sie bereits auswendig wissen, sondern tendieren zur stereotypen Anwendung ihrer Zähltechnik.
  • Zähltechniken können trainiert und perfektioniert werden, mit zunehmender Perfektion verschwindet aber das Bedürfnis, sich Zahlensätze zu merken. (...) Das Repertoire auswendig gewußter Zahlensätze steigt nur sehr langsam oder gar nicht.
  • Wenn Kinder in mittleren Schuljahren Fakten immer noch nicht auswendig wissen, verzichten sie auf Merkversuche ganz und verlassen sich voll auf instrumentelle Nutzung von Gegenständen, vor allem der Finger.
  • Zählende Rechner haben es schwer, zwischen der Aufgabe und dem nach einem länger dauernden Zählverfahren gefundenen Ergebnis eine Verbindung herzustellen. Das Lernen einer assoziativen Verknüpfung zwischen Aufgabe (= Reiz) und Ergebnis (= Reaktion) gelingt aber nur, wenn Reiz und Reaktion zeitlich dicht aufeinander folgen (etwa innerhalb einer Halbsekunde). Außerdem richtet sich die Aufmerksamkeit von Zählkindern mehr auf die Zählprozedur als auf den Zusammenhang zwischen Aufgabe und Ergebnis.
  • Zählkinder entwickeln nicht Beziehungen zwischen Zahlensätzen. Nachdem sie zählend 3 + 3 berechnet haben, tun sie dasselbe anschließend mit 3 + 4, ohne sich den Zusammenhang zwischen den beiden Aufgaben bewußt zu machen und ihn zu verwenden. Die beiden nacheinander gestellten Aufgaben 3 + 4 und 13 + 4 berechnen sie jeweils zählend, ohne die dekadische Analogie zu verwenden.
  • Zählendes Rechnen liefert jeweils nur Einzelfakten. Diese werden aber nicht in ein Beziehungs­geflecht eingebettet, gehen also leicht aus dem Gedächtnis verloren.
  • Bei schriftlichen Rechenverfahren, beim Lösen von Sachaufgaben, bei geometrischen Berechnungen usw., beansprucht zählendes Rechnen viel Aufmerksamkeit, die dann für die Planung von Lösungsschritten und das Einhalten von Verfahrensregeln nicht mehr zur Verfügung steht.”

    Erheblich günstiger sieht die Situation für diejenigen Schulkinder aus, die Ableitungstechniken verwenden können:
     
  •  Rechenschlange 2 + 7 =   9 weil 7 + 2 =  9 (Tauschaufgabe)  

     3 + 4 =   7 weil 3 + 3 = 6 (Nachbaraufgabe)
      
     7 - 4 =   3 weil 4 + 3 = 7 (Umkehraufgabe) 

     1 3 + 4 = 1 7 weil 3 + 4 = 7 (dekadische Analogie)
     
  • Ein Kind, das mit solchen Strategien rechnet, ist erheblich schneller als zählende Rechner, hat also ständig Erfolgserlebnisse.
  • Beil Aufgabe und Ergebnis rasch aufeinander folgen, gelingt das Lernen der Assoziationen besser.
  • Ein solches Kind ist motiviert, sein Repertoire auswendig gewußter Zahlensätze zu vergrößern, weil es diese zum Ableiten braucht. Es baut also einen zunehmenden Vorrat an bekannten Fakten auf, um neues Faktenwissen zu erwerben.
  • Ableitungsverfahren benutzen Vorwissen und verstärken dieses somit. Sie machen Beziehungen zwischen Zahlensätzen bewußt, verbessern so die Fähigkeit, Fakten zu erinnern und reduzieren zugleich den Memorierstoff.
  • Dazu ein Beispiel: Wenn ich weiß, daß 4 + 3 = 7 ist, dann weiß ich auch, wieviel ich von 4 bis 7 ergänzen muß, weiß also den Unterschied zwischen 4 und 7, ich kenne die Differenz 7 – 4.

Folgerungen für den Rechenunterricht
(nach Hans-Dieter Gerster, 1996)

  • Die Devise, man solle es den Kindern überlassen, ihre eigenen Strategien zu entwickeln und anzuwenden, erscheint äußerst fragwürdig. Rückwärtszählen mag bei der Aufgabe 8 – 2 angemessen sein, bei 15 – 9 ist dies nicht der Fall
  • Zählmethoden mögen bei kleinen Zahlen noch praktikabel erscheinen, bei größeren Zahlen sind sie untauglich (z.B. 74 + 19).
  • Gerade schwachen Kindern muß Gelegenheit gegeben werden, den Zusammenhang zwischen Aufgabe und Ergebnis zu sehen, ohne den Wirrwarr einer dazwischen-liegenden langen Zählprozedur.
  • Wir müssen die Diskriminierung des Auswendiglernens beenden und anhand überzeugender Beispiele Vorteile des Faktenwissens aufzeigen.
  • Vor der Behandlung der schriftlichen Rechenverfahren müssen das Einsundeins und Einmaleins automatisiert sein.
  • Zählmethoden als einzige Lösungsstrategie über das erste Schuljahr hinaus zu tolerieren, ist unterlassene Hilfeleistung und bewirkt, daß sich Unterschiede zwischen schwachen und befähigten Schülern ständig vergrößern.

Gerster erläutert Lernschritte zum Addieren/Subtrahieren im Zahlenraum bis 20. Dazu gehört zunächst die simultane, d.h. die gliedernde, nicht zählende Erfassung der Anzahlen bis 10. Gerster weist darauf hin, daß die “Zehn” in all ihren Gestalten sofort erkannt werden soll, betont die Wichtigkeit der engen Koppelung der drei Repräsentationsformen enaktiv (konkrete Handlung), ikonisch (Vorstellungsbild) und symbolisch (Gleichungsschreibweise), entwickelt eine Lehrstrategie zur Automatisierung des kleinen Einsundeins und macht Vorschläge zur Erstellung von Lernkarteien zur Automatisierung des Einsundeins und des Einmaleins.
Damit das Schulkind überhaupt den Gesamtzusammenhang erfassen kann und nicht (wieder) ins zählende Rechnen zurückkehrt, müssen für die Aufgabenstellung 14 - 6 = [ ] vor der Zehnerüberschreitung im Zahlenraum bis 20 mit Zerlegung des Operationsschrittes drei Aufgabentypen bereits automatisiert sein:
Subtrahieren bis zur 10 (“Von der 14 bis zur 10 sind es vier”)
Zerlegung des Operationsschrittes (DieSechser-Ergänzung zu 4 ist 2)
Subtrahieren von 10 (“Wenn ich von 10 subtrahiere, gehört zur 2 die 8”)

aus:
Ulrich Hain: Familiendynamik bei Belastungen durch umschriebene Lern- und Leistungsstörungen
Familiäre Bedingungen der Bewältigung dyskalkulatorischer Entwicklungsstörungen bei Mädchen und Jungen
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008